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Hier geht es zur aktuellen Sozialraumananlyse 2019
1 Der analytische und methodische Zugang
Die Methoden der Sozialraumanalyse lehnen sich an qualitative Forschungsmethoden an und haben sich aus der Dynamik der Jugendarbeit und deren Erkenntnisinteresse entwickelt (Krisch 2014). Einerseits versuchen sie analytisch die Aneignungsformen Jugendlicher in ihren Wechselwirkungen mit den gesellschaftlichen Raumdefinitionen zu erschließen und damit die sozialräumliche Qualität jugendlicher Lebenswelten zu erfassen. Andererseits findet aber die Anwendung der Methoden direkt im „Feld der Jugendarbeit statt, die in der Interaktion mit Jugendlichen eine bestimmte Praxis der Jugendarbeit generiert. Die Methoden sind also Forschungsinstrument und Instrument der praktischen Arbeit zugleich: sie vermitteln Erkenntnisse über Jugendliche und räumlich vermittelte gesellschaftliche Strukturen und sind auch Praxis der sozialräumlichen Jugendarbeit (Krisch 2014).
2 Das Sozialraumteam
Die Sozialraumanalyse wurde von den Jugendarbeitern/der Jugendarbeiterin der Gemeinde Raeren durchgeführt: Werner Kalff, Tom Rosenstein und Verena Zimmermann). Für die wissenschaftliche Beratung und die Schlussredaktion war PD Dr. Manfred Schmitz (RWTH Aachen) zuständig.
3 Erkenntnis leitende Fragestellung
Aus der Diskussion des Sozialraumteams entwickelte sich folgende Forschungsfrage:
„Ist die Jugendarbeit in Raeren so gestaltet, dass wir (die Jugendarbeiter) genügend Jugendliche erreichen?“
Aus dieser Erkenntnis leitenden Frage wurden für die Befragung von Schlüsselpersonen folgende Unterfragen entwickelt:
1. Wie beurteilen Sie die Situation der Jugendlichen in der Gemeinde?
2. Welche Bedürfnisse der Jugendlichen stellen sie fest?
3. Welche Mängel in der Jugendarbeit sehen Sie?
4. Lassen sich die von Ihnen genannten Defizite kurz- oder langfristig beheben?
5. Welche Möglichkeiten sehen Sie, dass die Jugendlichen ihre Probleme und Bedürfnisse selber artikulieren können?
6. Waren die Jugendliche früher „besser“?
7. Haben Sie den Eindruck, dass die Jugendarbeit in der Gemeinde genügend Angebote für Jugendliche mit einer Beeinträchtigung bereit hält?
4 Angewandte Methoden
Die Methoden der Sozialraumanalyse sollen das Spannungsfeld beschreiben, welches die Sozialisation der Jugendlichen strukturiert. Ausgehend von diesem Postulat, hat das Sozialraumteam aus dem Angebot der empirischen Sozialforschung folgende Methoden ausgewählt:
1. Die Autofotografie
2. Die Befragung von Schlüsselpersonen mittels eines Leitfadens (siehe Unterfragen)
3. Das Gruppendiskussionsverfahren
4. Die Auswertung der Ergebnisse aus der Fragebogenerhebung für Schüler/innen der Sekundarschulen aus dem Norden der DG (2010) für die Gemeinde Raeren.
Für diese Auswahl gibt es folgende wissenschaftlich triftige Begründung:
Zu 1.: Die Autofotografie zeigt jugendkulturelle Ausdrucksformen auf und führt methodisch zur Abbildung jugendlicher Raumbestimmungen und Aneignungsformen.
Zu 2.: Bei der Befragung der Schlüsselpersonen interessieren generell die Einschätzungen und das Wissen über jugendsoziologische und sozialräumliche Zusammenhänge seitens der Repräsentanten bzw. der Mitarbeiter/innen von Institutionen und Einrichtungen in der Gemeinde Raeren.
Zu 3.: Nicht die Meinung einer Gruppe steht im Vordergrund, sondern die sie bedingende Struktur gemeinsamer milieuspezifischer und biografischer Erfahrungen/gemeinsame Erlebnisbasis. Somit ist Validität (auch Reproduzierbarkeit und Reliabilität) gegeben. Anhand eines Grundreizes werden die Teilnehmer zu Statements über den erfahrenen Sozialraum stimuliert, die sich in der Diskussion bewähren müssen und evtl. neue Fragen generieren.
Zu 4.: Aus dem riesigen Fundus der repräsentativen Schülerbefragung, die sich an die Shell-Studie anlehnt, lassen sich Ergebnisse für die Gemeinde Raeren extrahieren, die Hinweise auf Wünsche, Bedürfnisse und Verhalten der Jugendlichen geben.
Auf eine allgemeine strukturelle Beschreibung der Gemeinde Raeren sowie der offenen Jugendarbeit wird bewusst verzichtet, da sie Amts bekannt ist. Die Alterspyramide der Jugendlichen in der Gemeinde sowie der Anteil belgischer und jugendlicher Einwanderer finden sich im Anhang.
5 Auswertung der ausgewählten sozialräumlichen Methoden
5.1 Die Autofotografie
Bei jüngeren Jugendlichen stellt die Erweiterung der Handlungsräume eine typische Tätigkeit dieser Altersgruppe dar. Bei älteren Jugendlichen kommt Räumen eine zentrale Bedeutung zur Konstituierung ihrer Gleichaltrigenkultur und als sozialräumlich vermittelte Ressource der Lebensbewältigung zu (Krischer 2014).
Ausgehend von diesen theoretischen Grundannahmen, hat das Sozialraumteam Jugendliche mit Kameras ausgestattet. Die Jugendlichen haben eigenständig Orte ausgewählt, fotografiert und interpretiert und damit ihre jugendlichen Raumbestimmungen und Aneignungsformen abgebildet, Cliquenräume und öffentliche Räume dokumentiert. Die Fotos liegen dem Sozialraumteam vor, bleiben aber auf Wunsch der Jugendlichen und mit dem Einverständnis des Sozialraumteams unveröffentlicht, um den angeeigneten Raum zu schützen.
5.2 Befragung von Schlüsselpersonen
5.2.1 Allgemeine Vorbemerkungen
Dieses Verfahren findet durchweg Anwendung in Situationen, in denen wenige oder vorwiegend qualitative Daten vorliegen. Es ist im Gegensatz zur Autofotografie keine Einstiegsmethode, sondern eher als Methode im Rahmen einer fortgeschrittenen Sozialraumanalyse geeignet, wenn weitergehende Fragestellungen formuliert werden können.
Ortmann definiert Schlüsselpersonen als Menschen in der Stadt/im Stadtteil/im Sozialraum, die auf Grund ihres Berufes, ihrer Position und ihrer Erfahrungen über spezifische Wissensvorräte bzw. „Hintergrundwissen“ über Strukturen, Veränderungen und Entwicklungen des Sozialraums verfügen (Deinet/Krisch 2014). Bei der Befragung von Schlüsselpersonen handelt es sich um ein leitfadengestütztes Interview mit dem versucht wird, ein differenziertes Bild der Vorgänge im Gemeinwesen zu erhalten. Bei alledem geht es weniger um offizielle Meinungen von Personen, die Institutionen vertreten, sondern besonders auch um interessante Anmerkungen oder die Möglichkeit, eigene Themen anzusprechen.
Zunächst müssen in einer Informationsphase die Schlüsselpersonen ausgewählt werden. Das Sozialraumteam hat folgende acht Personen aus Politik, Schulwesen, ÖSHZ, Jugendarbeit, Polizei und Gastronomie befragt:
Prof. Dr. Ulrich Deller (ÖSHZ)
Anneliese Huppertz (Schulleiterin Raeren)
Kuno Homburg (Präsident Jugendheim Hauset)
J.P. Ernst (Polizeirevier Hauset)
Heike Ehlert (Jugendschöffin)
David Kirchvink (Präsident Jugendtreff Inside)
Guido Lausberg (Lehrer, Handballtrainer, Kneipenwirt in der Sporthalle)
Dietmar Larrich (Wirt „Linde“)
5.2.2 Analyse der Befragung der Schlüsselpersonen
5.2.2.1 Die Situation der Jugendlichen in der Gemeinde
Die Jugendlichen mit Problemen kommen vor allem aus Elternhäusern mit prekärer Situation. Sie sind oft ohne soziale bzw. emotionale Bindung, haben Bildungsdefizite. Dazu kommt in vielen Fällen noch der Drogenkonsum. Andererseits wurde kolportiert, dass es weniger Randgruppen gibt, als noch vor ein paar Jahren. Insgesamt kann die soziale Situation der Jugendlichen in der Gemeinde als gut bezeichnet werden. (Das bestätigen auch die Ergebnisse der Fragebogenerhebung für die Schüler/innen der Sekundarschulen aus dem Norden der DG, siehe 7.)
Die Interviewten stellten übereinstimmend fest, dass es in der Gemeinde Raeren genügend Angebote im Freizeitbereich gibt. Die Gemeinde verfügt über eine Vielzahl von Vereinen in den Bereichen Sport und Kultur. Jenseits des organisierten Freizeitbereichs gibt es allerdings keine bestimmten Räume, wo sich Jugendliche aufhalten können. Beklagt wird bei alledem der große Mangel an Mobilität. Es gibt über den ÖPNV zu wenige Möglichkeiten, um benachbarte Städte und Gemeinden zu erreichen. Deshalb sind die Jugendlichen bei ihren Aktivitäten vielfach auf ihre Eltern angewiesen oder müssen Fahrgemeinschaften bilden.
5.2.2.2 Die Bedürfnisse der Jugendlichen
Bei den Jugendlichen aus Elternhäusern mit prekären und sozialen Problemen steht das Bedürfnis nach Familienanbindung, Partnerschaft, Solidarität und motivierenden Perspektiven im Vordergrund.
Übereinstimmung besteht darin, dass öffentliche Treffpunkte für die Jugendlichen fehlen. In Hauset wird der Multifunktionsplatz von den Jugendlichen viel besucht. Die sportlichen Aktivitäten ohne Vereinsbindung und feste Termine haben zugenommen. Dadurch geraten freilich die sozialen Aspekte ins Hintertreffen.
Trendmäßig sind die elektronischen Kommunikationsmittel sehr beliebt, so dass viele Jugendliche mit ihrem I-Phone oder PC zu Hause zufrieden sind.
5.2.2.3 Mängel der Jugendarbeit
Gerade bei den couch potatoes mit den großen und kleinen Bildschirmen wird die Frage nach der Erreichbarkeit virulent: Wie kann Jugendarbeit diese Jugendliche motivieren und aktivieren?
Die Schlüsselpersonen haben beklagt, dass eine Vernetzung der Einrichtungen der Jugendarbeit fehlt, dass es zu wenig Drogenprävention gibt und es an finanzieller Unterstützung im Sportbereich fehlt. Wünschenswert ist der Einsatz der Jugendlichen für Allgemeinheit bzw. die ehrenamtliche Tätigkeit.
5.2.2.4. Behebung der Defizite
Die Defizite sind zum großen Teil durch unsere Konsumgesellschaft bedingt. Immer noch hat das Elternhaus den größten Einfluss auf die Jugendlichen: Beteiligen sich die Eltern aktiv am Gemeindeleben oder sind dem Medienkonsum gegenüber kritisch eingestellt, wirkt sich dies in der Regel auch auf das Verhalten der Jugendlichen aus.
Wenn Ressourcen vorhanden wären, würde eine Vernetzung der sozialen und kulturellen Akteure eine Verbesserung der Jugendarbeit bedeuten.
Kurzfristige Verbesserungen könnten sich durch mehr Kontakte zu den Jugendarbeitern bei örtlichen Problemen und durch mehr Informationsveranstaltungen ergeben. Langfristig ist eine Verbesserung der Jugendarbeit jedoch nur durch professionell ausgebildete Personen im sozialen Bereich möglich. Die Schulen sollten in die Jugendarbeit einbezogen werden.
5.2.2.5 Möglichkeiten zur Artikulation von Problemen und Bedürfnissen
Die Schlüsselpersonen sind unisono der Meinung, dass es für die Jugendlichen genügend Möglichkeiten gibt, ihre Probleme und Bedürfnisse zu äußern. Die Jugendlichen müssten sich nur aus eigenem Antrieb bei den verantwortlichen Institutionen melden: bei der Familie, bei Freunden, bei Jugendarbeitern, Lehren und Trainern. Außerdem wird in der Gemeinde angeboten, einen Jugendbeirat zu gründen.
In einem Statement wird darauf verwiesen, dass Facebook und andere soziale Netzwerke ein gutes Sprachrohr für die Jugendlichen sind und deutlich zeigen, was sie bewegt.
5.2.2.6 Vergleiche mit der Jugend früher
Generell war die Meinung der Schlüsselpersonen: Es gibt kein „besser“ oder „schlechter“. Die heutige Jugend ist anders als ihre Vorgängergeneration. Jede Generation hat ihre typischen Probleme. Die Jugendlichen sind immer so gut wie die Gesellschaft. Offensichtlich ist das Angebot an die Jugendlichen so groß, dass Phantasie und Kreativität heute viel weniger oder zumindest anders gefördert werden.
Absolut negativ zeigte sich nur ein Statement: „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widerspricht ihren Eltern, legt die Beine übereinander und tyrannisiert ihre Lehrer.“
5.2.2.7 Angebote für Jugendliche mit Beeinträchtigung
Zunächst einmal gibt es offensichtlich keine Zahlen über Jugendliche mit Beeinträchtigung in der Gemeinde. Die Frage nach den Angeboten wird widersprüchlich beantwortet: Es gibt Schlüsselpersonen, die von keinem Angebot für Jugendliche mit Beeinträchtigung ausgehen, andere sehen durchaus Angebote (Workshops, Feriencamps) in Verbindung mit Jugendlichen ohne Beeinträchtigung, stellen aber keine Nachfrage fest.
6 Das Gruppendiskussionsverfahren
6.1 Vorbereitung und Durchführung der Gruppendiskussion
Oft wird in der Forschungspraxis – wie in dieser Sozialraumanalyse – die Gruppendiskussion in Kombination mit anderen Erhebungsverfahren angewandt. Sie dient vor allem zur Untersuchung überindividueller Verhaltenskonzepte und Einstellungen. Dazu bedarf es möglichst einer Realgruppe, deren Teilnehmer gleiche oder ähnliche Erfahrungen gemacht haben (Milieugruppe). Das oberste Ziel bei der Durchführung eines Gruppendiskussionsverfahrens besteht demnach in der Herstellung der Selbstläufigkeit, d.h. dass die milieutypische Art der Aufeinanderbezugnahme gegeben sein muss (Lamnek 1998, S. 428ff.).
Beim Ablauf der Gruppendiskussion hat sich das Sozialraumteam weitgehend an das Modell von Mayring (1999, S.79) gehalten. Zunächst einmal musste geklärt werden, welche Jugendlichen für die Gruppendiskussion relevant sind. Das Sozialraumteam hat sich darauf geeinigt, Jugendliche einzuladen, die den Jugendarbeitern/der Jugendarbeiterin aus ihrer Arbeit bekannt sind. Durch die bestehenden Kontakte zu den potentiellen Teilnehmern sollte eine offene, kommunikative und authentische Attitüde sichergestellt werden. Der Diskussionsort sollte den Teilnehmern nicht fremd sein und eine ungestörte Kommunikation ermöglichen. Darum wurde das Pfarrheim in Raeren gewählt. Dort fand die Gruppendiskussion am Donnerstag, 6. Februar 2014, von 19 – 21.35 Uhr statt. In der Eröffnungsphase wurde das Projekt durch den Diskussionsleiter Tom Rosenstein kurz vorgestellt. Das Protokoll führte Verena Zimmermann, Supervisor war Manfred Schmitz.
Durch den Grundreiz soll die Diskussion der Teilnehmer in Gang gebracht werden. Pointierte und provokante Statements eignen sich besonders als Impuls. Darum hat das Sozialraumteam einen fingierten Brief eines Jugendlichen an seinen Freund in die Diskussionsrunde eingebracht (siehe Anhang), der vermutete Reizthemen enthielt. Freilich wurden im Laufe der fünfundneunzigminütigen Diskussion weitere Reizargumente in die Diskussion eingebracht.
6.2 Die Auswertung der Gruppendiskussion
Konsens bei den beteiligten Jugendlichen war, dass es in Raeren eine breite Palette von Angeboten unterschiedlicher Vereine gibt, die aber offensichtlich von den Jugendlichen nicht wahrgenommen wird. (Das deckt sich mit Statements aus der Befragung der Schlüsselpersonen, die darauf verweisen, dass Aktivitäten ohne Vereinsbindung und Aktivitäten zugenommen haben. Siehe 5.2.2.2) Allgemein wird kolportiert, dass es in Raeren abends nicht viel zu erleben gibt. Es gibt keinen angesagten „Kneipentreff“ für Jugendliche. Am Wochenende geht es durchweg ins „Starfish“ nach Aachen. Von Aachen gibt es immerhin um halb 4 oder um halb 8 einen Nachtbus, ansonsten sind die Jugendlichen auf Fahrgemeinschaften, Eltern oder Taxi angewiesen. Letzteres trifft vor allem auf den Besuch der Diskos im näheren belgischen Umfeld zu. Was also generell fehlt, ist eine bessere Anbindung an den ÖPNV. Früher hat man sich spontan im Jugendheim getroffen. Die Öffnungszeiten werden als zu kurz angesehen (freitags bis 22 Uhr). Darum wurde angeregt, die Öffnungszeiten der Jugendheime zu verlängern und Getränke preiswert anzubieten. Eine Party mit allen drei Jugendheimen wäre toll, weil jedes Jugendheim seinen eigenen Stil hat. Freilich ist es nicht so einfach, den Musikgeschmack aufeinander abzustimmen.
Bei alledem sind die in der Gruppendiskussion geäußerten Probleme und angesprochenen Defizite eher Probleme der ländlichen Infrastruktur und weniger soziale Probleme, was der Tatsache geschuldet ist, dass der Großteil der Jugendlichen aus einem gesicherten sozialen Umfeld stammt (siehe unten Umfrage in den Nordgemeinden).
7 Die Auswertung der Ergebnisse aus der Fragebogenerhebung für Schüler/innen der Sekundarschulen aus dem Norden der DG für die Gemeinde Raeren
7.1 Allgemeine Bemerkungen zur sozialen Situation der Jugendlichen in den Nordgemeinden
Die Auswertung der Ergebnisse der Fragen nach der sozialen Situation lässt ein signifikant gutes bis sehr gutes Fazit in der Gemeinde Raeren erkennen. Es kann zu Recht von einer überdurchschnittlich guten, stabilen sozialen Situation gesprochen werden: 74,51% der Jugendlichen wohnen mit ihren Eltern im eigenen Haus bzw. 7,84% in einer Eigentumswohnung (Frage 79). 92,79% haben ein eigenes Zimmer (Frage 84), 54,39% besitzen auf jeden Fall zwei Autos in der Familie (Frage 81) und 38,11% fahren wenigstens einmal im Jahr in Urlaub, 25,49% sogar zweimal (Frage 82). Der weitaus überwiegende Teil der befragten Jugendlichen befindet sich also in einem bürgerlichen, auch finanziell abgesicherten Kontext, in dem in den nächsten Jahren größere Konvulsionen nicht zu erwarten sind. Das macht die (geplante) Jugendarbeit zunächst zweifellos einfacher als in einem politisch und gesellschaftlich unruhigen Umfeld.
7.2 Schwerpunkte für die Jugendarbeit
7.2.1 Sprachen lernen
Die in der Studie der Nordgemeinden abgefragten Sprachkenntnisse sind für die jüngeren Jahrgänge durchaus vertretbar, für die vor Ausbildung oder Studium stehenden Jahrgänge sind sie – gerade im Hinblick auf die niederländische Sprache – erheblich zu verbessern. Der Anteil der französischsprachigen Jugendlichen liegt in der Gemeinde Raeren bei 59,31%. Gering ist freilich mit nur 10,34% der Anteil niederländisch Sprechender. Bei einem Land, das dreisprachig ist und dessen wirtschaftliche Dominanz in absehbarer Zeit aber im niederländischen Sprachgebiet liegt, sollte schon im Hinblick auf die Berufsperspektive der Jugendlichen neben der Forcierung der Französischkenntnisse der Niederländischunterricht an Schulen und Bildungseinrichtungen gefördert werden.
7.2.2 Gesundheitsvorsorge und Drogenberatung
Zunächst einmal weisen die Ergebnisse aus den Fragen 12 bis 17 auf keinen besorgniserregenden Zustand hin, sondern zeigen im Vergleich mit großstädtischen Ballungszentren eher keine sensiblen Daten. Aber auch auf sozial stabilem Terrain gibt es bestimmte Verbesserungsmöglichkeiten:
a) Wenn nur 44,17% der Raerener Jugendlichen glauben, das richtige Körpergewicht zu haben, dann ist eine Ernährungsberatung angezeigt, die den Jugendlichen und ihren Eltern Fehlverhalten in der Ernährung und eine Verbesserung im Hinblick auf eine gesunde, ausgeglichene Ernährung aufzeigt. Allerdings sind Selbsteinschätzungen immer problematisch. Hier müssten Untersuchungen der Gesundheitsbehörden nähere Aufschlüsse geben.
Die Untersuchung von 2010 hat das Thema „Liebe und Sexualität“ so gut wie ausgespart, und es taucht nur im multiple choice der Frage 53 auf. 41,74% der Jugendlichen wünschen sich aber mehr Aufklärung über Liebe und Sex, 40,83% über Aids, und immerhin 20,87% würden sich in Fragen von Liebe und Sexualität an ein Jugendinformationszentrum wenden. Auch dies muss im Rahmen einer perspektivischen Gesundheitsvorsorge berücksichtigt werden.
b) Die Auswertung über den Anteil der Raucher (Fragen 14ff.) zeigt zwar mit 12,9% bzw. 14,71% (ab und zu), dass dies eher nicht im Mittelpunkt einer zukünftigen Prävention stehen muss, dass aber der Anteil der Jugendlichen, die sich der „Alltagsdroge“ Alkohol bedienen (13,32 bzw. 50,11%) deutlich genug ist, um ihn nicht in einer zukünftigen Jugendarbeit zu berücksichtigen. Im Gesamtkonzept einer zukünftigen Gesundheitsvorsorge und Drogenberatung sollten auf jeden Fall die „illegalen“ Drogen im Mittelpunkt stehen, zumal das belgisch-niederländisch-deutsche Grenzgebiet zu den „Beschaffungsräumen“ illegaler Drogen gehört. (Immerhin glauben 35,21% der Befragten, dass zu wenig über Drogen aufgeklärt wird.) Zwar weist die Befragung für Raeren keine signifikant negativen Zahlen zum Umgang mit Drogen aus, aber bekanntlich ist ja Vorbeugen besser als Heilen, d.h. dass auch hier Drogenprävention angesagt ist. Immerhin würden sich 19,35% der befragten Jugendlichen mit Drogenproblemen an ein Jugendinformationszentrum wenden (Frage 54). Tatsache ist, dass „nur“ 20,62% illegale Drogen schon konsumiert („regelmäßig“ bis „ab und zu“) haben, aber 42,92% jemanden kennen, der drogenabhängig ist und 77,75% glauben, dass man leicht an Drogen heran kommt und 23,36% nicht für die Abschaffung illegaler Drogen stimmen.
7.2.2.3 Computerkenntnisse
Die Umfrage zeigt eine beachtlich hohe Frequenz für die Nutzung neuer Medien: 99,33% der Befragten haben zu Hause Zugang zum Internet (Frage 18). 27,21% sind von 10 bis mehr als 30 Stunden wöchentlich im Internet (Frage 23). 80,36% benutzen das Internet für die Schule (Frage 20) und 95,74% haben eine eigene e-Mail-Adresse (Frage 19). Bei dieser abgefragten hohen Nutzung des Internets kann es nicht verwundern, dass es 90,05% der Jugendlichen als wichtigstes Informationsmittel nennen (Frage 61). Wenn also das Internet für die Jugendlichen ein so wichtiges „Werkzeug“ bzw. Informationsmittel ist, dann sollte es auch (verstärkt) für die Jugendarbeit eingesetzt werden. Allerdings darf es für den Erwerb von Computerkenntnissen keinen „Wildwuchs“ geben: So geben 69,68% der Jugendlichen an, sich die Computerkenntnisse selbst beigebracht zu haben; insgesamt 58,15% geben Familienangehörige als „Computerlehrer“ an (Frage 24). Im Hinblick auf die Relevanz der Computernutzung für Studium, Ausbildung und Beruf (Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, Power-Point-Präsentation etc.) sollte die Einführung in die Computerwelt systematisch durch Fachleute in Schule und Jugendtreffs erfolgen, die dann auch in adäquater Form auf die Gefahren bzw. rechtlichen Konsequenzen im Umgang mit Computer und Internet (Fragen 26,27) hinweisen können.
7.2.2.4 Politische Bildung
Wie aus vergleichbaren Untersuchungen nicht anders zu erwarten war, erweisen sich das Interesse Raerener Jugendlicher an politischer Bildung und die Kenntnisse politischer Institutionen als „großes schwarzes Loch“: 48,52% sind wenig und 33,94% der Befragten gar nicht an Politik interessiert (Frage 29). Darum kann es nicht verwundern, wenn Fragen nach den politischen Institutionen der DG so unzureichend beantwortet werden. Schulen und außerschulische Organisationen (Parteien, Gewerkschaften, Jugendtreffs etc.) stehen deshalb in der Pflicht, mehr über Politik und das politische System Belgiens zu vermitteln. Dies umso mehr, da große Teile der Jugendlichen noch „keinen Kontakt“ zu politischen Organisationen haben oder sie „nicht kennen“ (Frage 51). Politische Bildung bzw. Information sollte auch über das von den Jugendlichen bevorzugte Internet erfolgen. (Übrigens: Politikunterricht muss nicht langweilig sein. Externe Anreize können über Exkursionen, Theaterstücke, Rollenspiele, Jugendparlamente, Video-Clips o.ä. gesetzt werden.)
Im Rahmen der politische Bildung sollten auf jeden Fall auch die Probleme physischer, psychischer und struktureller Gewalt besprochen werden. Über die Hälfte der interviewten Jugendlichen in Raeren war in den letzten 12 Monaten vor der Befragung in gewaltsame Auseinandersetzungen verwickelt (Frage 35). Zweifellos sind hier Maßnahmen der Gewaltprävention angesagt. (Die in den letzten Jahren verstärkt auftretenden Probleme des Mobbings in der Schule und am Ausbildungsplatz sind in den Antwortvorgaben leider nur bei den Fragen 53 und 54 zu finden.)
7.2.2.5 Die Kommunikation muss verbessert werden
Die Kommunikation mit den Jugendlichen kann nur verbessert werden, wenn die sozialen und medialen Verbindungen zu den Jugendlichen stimmen, d.h. dass sich die Jugendlichen sozial und in der Sache kompetent bei den informierenden bzw. beratenden Stellen aufgehoben fühlen. Nur über eine Verbesserung dieser Rahmenbedingungen können auch die thematischen Schwerpunkte für eine zukünftige Jugendarbeit, wie sie sich aus den Ergebnissen der Umfrage ergibt, in eine erfolgreiche Jugendarbeit umgesetzt werden. Die Fragen 51ff. des Fragebogens zielen deshalb auf diese angepeilte Verbesserung der Kommunikationssituation: Wenn das Internet die wichtigste Informationsquelle ist, dann muss diese auch für eine zukünftige Jugendarbeit genutzt werden – allerdings mit Einschränkungen: Die interviewten Jugendlichen wünschen sich in vielen Themenbereichen mehr Information (Frage 53); über die Hälfte bevorzugt dabei das Internet als Forum für anonyme Fragen an Experten (Frage 58). 61,67% wünschen sich aber die Informationen für Jugendliche an einem speziellen Ort (Frage 61). Offensichtlich ist der Infotreff bisher nicht der richtige Ort, weil er bisher in der Hauptsache für Ferienjobvermittlung und Verkauf der Jugendkarte 26 in Anspruch genommen wurde (Frage 56).
Wie die Umfrage belegt, wird beim Thema „Schule und Studium“ noch die größte Kompetenz des Jugendinformationszentrums vermutet. Zunächst aber muss es vor der Steigerung der Attraktivität des Angebots darum gehen, die bestehenden Institutionen der Jugendarbeit überhaupt bekannt zu machen. Das Dilemma eingeschränkter Kommunikation zwischen Jugendlichen und allen, die in die Jugendarbeit involviert sind, ist vermutlich das Dilemma einer überwiegend passiven Freizeitgestaltung im „Rundum sorglos-Paket“ des gesicherten sozialen Umfelds der Gemeinde Raeren (siehe auch 6.2). Der Anteil passiver Freizeitgestaltung ist in der Tat signifikant hoch. Sieht man einmal von den sportlichen Aktivitäten ab, ist das Zeitdeputat für tägliches Fernsehen (57,94%), täglich Musik hören (77,21%) oder faulenzen (43,93%) beachtlich hoch; aktive Freizeitgestaltung bleibt dagegen mit täglichem freiwilligen Engagement (3,14%), täglichem Bücher lesen (13,41%) oder täglichem Musik machen (9,55%) erschreckend niedrig (Frage 67). Um von der Situation der couch potatoes weg zu kommen, bedarf es jedoch vieler Aktionen bzw. Projekte von Schulen, Sport- und Musikvereinen, Parteien, Gewerkschaften , Sozialverbänden und Freizeitorganisationen, um für ein aktiveres Jugendleben zu werben. Freilich muss der erste Anreiz schon im Elternhaus geschaffen werden.
8 Fazit und Ausblick: Die zukünftige Jugendarbeit
Die Analyse hat durch eine entsprechende Forschungsfrage die Erreichbarkeit der Jugendlichen in den Mittelpunkt gestellt. Gerade bei den couch potatoes mit den großen und kleinen Bildschirmen wird die Frage virulent, wie eine Jugendarbeit unter diesen Bedingungen gestaltet werden kann, wie Jugendliche zu motivieren und zu aktivieren sind. Dies ist freilich kein spezielles Raerener, sondern ein allgemein gesellschaftliches Problem. Die einschlägige Fachliteratur zeigt denn auch, dass diesem Problem nicht so schnell beizukommen ist, wenn entsprechende Impulse, Begleitungen und ggf. Korrekturen aus dem Elternhaus fehlen. Daneben sind Schulen und Jugendarbeit aufgefordert, über Medienunterricht bzw. Medienseminare über Ertrag und Gefahr der elektronischen Kommunikationsmittel aufzuklären. Zu diesem Zweck sollten aber alle Akteure der Jugendarbeit in Raeren vernetzt sein. Andererseits sollte über der „Jugend liebstes Medium“, über die sozialen Netzwerke, versucht werden, die Kommunikation mit den bisher „nicht Erreichbaren“ zu initiieren bzw. zu verbessern.
Wie gerade die Gruppendiskussion gezeigt hat, lassen sich zweifellos kurzfristig die Wünsche nach verlängerten Öffnungszeiten in den Jugendtreffs oder „jugendgemäßen“ Getränkepreisen am ehesten verwirklichen. Darüber hinaus sollte auf die Verkehrsbetriebe eingewirkt werden, für eine bessere Anbindung, gerade für die Wochenend-Aktivitäten (Nachtbus von Aachen, Nachttaxi), Sorge zu tragen.
Wie die Fragebogenaktion unter den Schülern der Nordgemeinden gezeigt hat, sollte aber längerfristig die Jugendarbeit auf folgende Themenbereiche fokussiert werden:
1. Sprachen lernen
2. Gesundheitsvorsorge und Drogenberatung
3. Elektronische Kommunikationsmittel und deren Gefahren
4. Politische Bildung
Diese Themenbereiche müssen in einem attraktiv gemachten medialen Umfeld von einem kompetenten Team oder von Gastdozenten vermittelt werden. Zunächst aber ist es wichtig, die geplante Jugendarbeit mit ihren Institutionen über Aktions- und Projekttage oder Jugendwochen überhaupt bekannt zu machen.
Anhang:
Grundreiz für die Gruppendiskussion
Lieber Max,
in unserer Gemeinde Raeren ist total tote Hose. Für uns Jugendliche gibt es viel zu wenige Möglichkeiten, unsere freie Zeit zu gestalten. Uns fehlen Partys, Jugendtreffs, Kneipen, und wir Jugendlichen haben auch keine Möglichkeit, unsere Interessen zu artikulieren bzw. unsere Bedürfnisse durchzusetzen: Ich habe auch keinen Bock, mich in meinem Fußballverein zu engagieren, weil dort auch nur die alten Säcke das Sagen haben.
Super wäre es, wenn wir Räume finden, wo wir selbst unsere freie Zeit gestalten können ohne Aufsicht der Erwachsenen. Egal, wo wir abhängen, werden wir sonst von den Dorfbullen vertrieben. Ich glaube nicht, dass die Mängel in der Jugendarbeit in unserer Gemeinde schnell zu beheben sind. Ich werde deshalb wie bisher meine freie Zeit lieber in Aachen oder Eupen verbringen.
Literatur:
Deinet, U./Krisch, R.: Befragung von Schlüsselpersonen. URL: http://sozialraum.de/befragung-von-schluesselpersonen.php.Zugriff: 27.3.14
Krisch, R.: Sozialraumanalyse als Methodik der Jugendarbeit. URL: http://sozialraumanalyse-als-methode-der-jugendarbeit.php. Zugriff: 26.3.14
Lamnek, S.: Gruppendiskussion. Theorie und Praxis. Weinheim 1998
Mayring, P.: Einführung in die qualitative Sozialforschung. 4. Aufl. 1998